Wie bereits über ein kurzes Video am 29. März von uns berichtet, wurde inzwischen ein Artikel mit dem Titel „Structure and Distribution of an Unrecognized Interstitium in Human Tissues“ am 27. März 2018 in der Zeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
Während einer Untersuchung des Gallengangs eines Patienten auf Anzeichen von Krebs stießen Dr. Benias und Kollegen, Ärzte des Mount Sinai Beth Israel Medical Centers, auf Hohlräume, die nicht zur bisher bekannten menschlichen Anatomie zugeordnet werden konnten – und wendeten sich daraufhin an den Pathologen Dr. Theise der Universität von New York.
Dieser stellte fest, dass es sich beim „Interstitium“ nicht um ein hartes, steifes Material handelt. „Es funktioniert wie ein Stoßdämpfer“, sagt Theise. In zahlreichen Berichterstattungen wird direkt von einem neuen Organ gesprochen, da das Interstitium anscheinend eine spezielle Aufgabe im Körper erfüllt – es könnte als Puffer zwischen Kompression und Dehnung fungieren.
Das potentielle Organ lässt sich als „großes Gewebe“ beschreiben. Das lateinische Wort „Interstitium“ leitet sich vom Adjektiv interstitial ab, was so viel wie dazwischenliegend bedeutet. So wird beispielsweise auch der flüssigkeitsgefüllte Raum zwischen einzelnen Zellen genannt: Interstitialraum mit interstitieller Flüssigkeit. Bislang unbekannt war jedoch die kanalförmige Organisation und die weite Verbreitung dieser Hohlräume. Das neu entdeckte Interstitium besteht aus einer bindegewebigen Netzschicht aus den Faserproteinen Kollagen und Elastin, die Kammern und Kanäle bildet und sich mit Flüssigkeit füllen kann. Im Gegensatz zum Interzellularraum sind diese Kanalsysteme jedoch auch makroskopisch erkennbar. So wird die „Neuentdeckung“ in der ursprünglichen Publikation von Dr. Benias und Kollegen auch eher als Erweiterung und Spezifizierung des bisherigen Begriffs Interstitium vorgestellt und eine Revision anatomischer Konzepte vorgeschlagen.
Doch wie kam es zu dieser (verspäteten) Entdeckung?
Üblicherweise wird Gewebe zur histologischen Untersuchung unter dem Mikroskop in sehr dünne Scheiben geschnitten und chemisch behandelt, unter anderem wird ihm die Flüssigkeit entzogen. Durch die Dehydration sind die Kanäle allerdings kollabiert und wirkten bisher uninteressant bzw. wurden nicht als solche erkannt.
Erst durch ein innovatives endoskopisches Verfahren, die konfokale Laser-Endomikroskopie, kann mittlerweile auch lebendes Gewebe sehr genau analysiert werden. Dabei entdeckten die amerikanischen Ärzte nach Injektion einer Testlösung in den Gallengang die netzartigen Strukturen innerhalb der flüssigkeitsgefüllten Räume. Entnommenes Biopsiegewebe wurde vor der Untersuchung unter dem Mikroskop eingefroren, so dass die ursprüngliche anatomische Struktur erhalten blieb und genauer analysiert werden konnte.
Die amerikanischen Forscher fanden das Interstitium aber auch in der Submucosa verschiedener anderer innerer Organe, die intermittierender oder rhythmischer Kompression ausgesetzt sind, wie der Harnblase, des gesamten Gastrointestinaltrakts sowie in der Haut, im Gewebe um Venen, Arterien und die Bronchien herum sowie in Muskeln. Das Interstitium zieht sich wie ein riesiges Geflecht durch den Körper und beinhaltet circa ein Drittel der gesamten Körperflüssigkeit.
Für Dr. Benias und Kollegen ist besonders ein möglicher Zusammenhang mit der Krebsforschung interessant und vielversprechend: eine schnelle Ausbreitung über diverse Organe könnte damit erklärt werden. So konnten andere Studien zeigen, dass die Gefahr einer Metastasierung deutlich erhöht ist, wenn ein Tumor in die Submucosa, also in das Interstitium, vorgedrungen ist.
Aber auch für die Osteopathie könnte diese neu entdeckte anatomische Architektur interessant sein, um die Wirkung bestimmter Techniken und physiologische Vorgänge im menschlichen Körper besser zu verstehen. Die Kommunikation und Verbindung verschiedener Organe und Körpersysteme über die Faszien, die ebenfalls aus Bindegewebe bestehen, ist seit längerem bekannt und fest in der Osteopathie verankert (wir berichteten: https://www.osteopathie-schule.de/pdfs/ori/publikationen/Element_der_Faszien_in_der_ost.pdf ). Durch die empfohlene Revision des bisherigen anatomischen Verständnisses, dass die Wandschichten von Organen und Blutgefäßen eine dichtgepackte Schutzschicht aus Kollagen darstellen, könnten sich auch neue osteopathische Behandlungsansätze über das flüssigkeitsgefüllte Interstitium eröffnen. Die „Neuentdeckung“ des Interstitiums, insbesondere als Stoßdämpfer und Flüssigkeitstransportsystem, kann also eventuell auch eine Erweiterung des bisherigen Faszienbegriffes darstellen.
 
Referenz:
Benias PC, Wells RG, Sackey-Aboagye B, Klavan H, Reidy J, Buonocore D, Miranda M, Kornacki S, Wayne M, Carr-Locke DL & Theise ND. Structure and Distribution of an Unrecognized Interstitium in Human Tissues. Scientific Reports 2018; 8: 4947; doi:10.1038/s41598-018-23062-6
Online verfügbar unter: https://www.nature.com/articles/s41598-018-23062-6

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert