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1928 postulierte John B. Watson, einer der Begründer der Behaviorist School of Psychology, zum Umgang mit Kindern: „Umarmt und küsst sie niemals, lasst sie niemals auf eurem Schoß sitzen. Wenn es sein muss, küsst sie einmal auf die Stirn zum Gute-Nacht-Sagen. Gebt ihnen morgens die Hand.“ Watson war klar, dass Kinder eine gewisse Fürsorge brauchten, riet aber stickt davon ab, sie viel zu berühren, da sie dies zu „rührseligen“ Erwachsenen machen würde, „ein unberührtes Kind wird […] gute Arbeit leisten und stabile emotionale Gewohnheiten zeigen, so dass keine Schwierigkeit es überwältigen kann.“.

Heutzutage wissen wir, dass das Gegenteil die Wahrheit ist: Kinder sollten so oft und so liebevoll wie möglich berührt werden!

Der Neurowissenschaftler David Linden schreibt in seinem Buch „Touch: The Science of Hand, Heart, and Mind“, dass Berührung essenziell ist, damit ein Neugeborenes überhaupt überleben und heranwachsen kann.

Berührung ist der erste Sinn, der sich im Menschen entwickelt und bleibt vielleicht einer der emotionalsten Zentralen durch unser Leben hindurch.

Ein Ausflug in ein dunkles Kapitel der rumänischen Geschichte verdeutlicht die wichtige Bedeutung von Berührung:

Mitte der 1960er Jahren kam Nicolae Ceaușescu an die Macht und versuchte, über Bevölkerungszuwachs den industriellen Output des Landes zu erhöhen: Er verbot Verhütungsmittel und Abtreibungen für alle Frauen, die nicht mindestens vier Kinder hatten. Alle über 25-Jährigen kinderlosen Männer und Frauen mussten 30% ihres Einkommens als „Kinderlosensteuer“ abführen. Innerhalb eines Jahres wuchs die Geburtenrate um 13% und die Kinderpopulation verdoppelte sich fast. Das Ergebnis war eines der traurigsten natürlichen Experimente in der modernen Psychologie: Tausende Kinder wuchsen vernachlässigt in unterbesetzten Heimen auf und erlebten dort sehr häufig schwere sensorische Verarmung durch fehlenden Körperkontakt in ihrer sensibelsten Lebensphase zwischen 0 und 3 Jahren.

Außerhalb des Landes wussten nur wenige von diesen Zuständen. Erst nachdem Ceaușescu seines Amtes enthoben wurde, erreichten Bilder der vernachlässigten Kinder die Fernsehbildschirme der übrigen Welt. 1994 reisten Mary Carlsen, Neurobiologin der Harvard Medical School, und ihr Ehemann Felton Earls, Psychiater in Harvard, zusammen mit einem ehemaligen Studenten, dem Psychologen Harry Harlow, der für seine Forschung über sozial vernachlässigte Affen bekannt ist, nach Rumänien. Sie berichteten von Stummheit, leeren Gesichtsausdrücken, sozialem Rückzug und bizarren stereotypen Bewegungsmustern der rumänischen Heimkinder.

In etwa zeitgleich etablierte Joseph Starling, ein Spezialist für Kindesentwicklung, in Rumänien ein einjähriges Early-Enrichment-Programm für eine Gruppe von Kindern, um sie vor schwerer Vernachlässigung und sensorischem Entzug zu bewahren. In dem Bereicherungsprogramm betrug der Betreuungsschlüssel 4:1, im Gegensatz den übrigen Institutionen, in denen sich ein Betreuer um ca. 20 Kinder kümmerte. Carlson und Earls untersuchten die Cortisolwerte der Kinder des Enrichment-Programmes im Vergleich mit Kindern aus einer konventionellen Institution. Die Messungen zeigten, dass Kinder aus Starlings Programm normale Cortisol-Werte hatten, ähnlich wie Kinder, die zu Hause aufwuchsen. Die Kinder der Kontrollgruppe zeigten hingegen unkonventionelle Werte. Auch in weiteren Tests zeigten die Kinder mit engerer Versorgung und mehr Aufmerksamkeit bessere Ergebnisse in physischen und behavioralen Aspekten.

Allerdings verschwanden diese Vorteile, wenn die Kinder aus dem Programm zurück in berührungsarme Verhältnisse geschickt wurden. Obwohl der Umgang mit Stress auch nach 18 Monaten noch besser war, zogen sie sich sozial schnell wieder zurück und reagierten im Kontakt mit anderen Kindern oder Erwachsenen auffällig.

Schon 15 Minuten Berührung am Abend können das Wachstum und die Gewichtszunahme von Kindern positiv beeinflussen und bei Erwachsenen zu Verbesserungen in emotionalen, physischen und kognitiven Bereichen führen. Zu diesem Ergebnis kamen wissenschaftliche Untersuchungen. Aber auch ältere Menschen, die regelmäßig von einem Massagetherapeuten besucht werden, sind zum Beispiel glücklicher und gesünder als jene, die keine derartige Behandlung erhalten – sogar, wenn die Massage selbst keinen Effekt hat.

Berührung kann blutdruck- und herzfrequenzsenkend, sogar schmerzlindernd wirken. Sie stimuliert den Hippocampus, was zu einer Ausschüttung von Hormonen und Neuropeptiden führen kann, die mit positiven Gefühlen assoziiert sind.

Aber das Hirn kann nicht nur unterscheiden zwischen heiß/warm/kalt, schnell/langsam, hart/zart, sondern auch zwischen emotionaler und nicht-emotionaler Berührung. Einige Rezeptoren in der Haut existieren nur, um Emotionen zum Hirn zu senden, nicht jedoch sensorische Informationen. Eine aktuelle Studie bewies, dass wir die Basis-Emotionen eines Menschen einschätzen können, nur indem er uns berührt – das erklärt, warum nonverbale Kommunikation über Berührung stattfinden kann und wie sich dies auf unser Verhalten auswirken kann.

David Linden stellt fest: Je mehr wir über Berührung wissen, desto mehr können wir realisieren, wie zentral sie ist, in allen Aspekten unseres Lebens – kognitiven, emotionalen, entwicklungs- und verhaltensspezifischen – von der Wiege bis in das hohe Alter.

Diese Erkenntnisse sollten nicht nur in der Kindeserziehung und im zwischenmenschlichen Kontakt, sondern auch im therapeutischen Kontext berücksichtigt und genutzt werden.

 

Referenz: Konnikova, M The Power of Touch. The New Yorker; published march 4th, 2015; URL: http://www.newyorker.com/science/maria-konnikova/power-touch (assessed 21.04.2016)

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