„In den 1990er Jahren überrollte die evidenzbasierte Medizin (EBM) die Pharmaindustrie zunächst für eine Weile.
Pharmavertreter wurden überflüssig, weil ihre Musterpräparate oft keinen Wirksamkeitsnachweis besaßen. Doch die Pharmakonzerne erkannten schnell, dass die EBM für sie nicht nur Bedrohung war, sondern vielmehr neue Chancen eröffnete. Forschung, in einem prestigeträchtigen Journal publiziert, ist mehr wert als 1000 Vertreter zusammen. Heute ist die EBM eine geladene Waffe an der Schläfe von Ärzten. „Du machst es besser so wie die Evidenz es vorgibt!“ zischt es in Krankenhäusern und Arztpraxen, und lässt dabei keinen Raum für eigenes Ermessen oder Urteil. Evidenzbasierte Medizin ist nun ein Problem, das Ärzte zu Überdiagnostik und Übertherapie anheizt.
Man sieht, ohne so genannte Evidenz gibt es keine Möglichkeit, einen Fuß in medizinische Guidelines zu bekommen. Das ist ein ernstzunehmendes Verzerrungsproblem, weil die Pharmaindustrie den größten Teil der Forschung kontrolliert und finanziert. Also haben die Pharmaindustrie und die EBM begonnen, fragwürdige Diagnosen zu legitimieren und entsprechend Indikationen von Medikamenten auszuweiten. Steigende Verordnungszahlen spiegeln also nicht die tatsächlich angestiegene Krankheitslast oder die alternde Bevölkerung wider, sondern sprechen für eine Polypharmazie auf Grundlage scheinbarer Evidenz. […]
Wie viele Menschen interessiert es, dass die Forschungsgewässer verschmutzt sind, mit Scheindiagnosen, Kurzzeitdaten, schlechten Verordnungen und Ersatzendpunkten, Fragebögen, die nicht validiert werden können, statistisch signifikanten aber klinisch irrelevanten Outcomes? Medizinische Experten, die die Aufsicht in Forschungsprojekten übernehmen, stehen auf der Gehaltsliste. Nicht einmal das angesehene National Institute for Health and Care Excellence und die Cochrane Collaboration schließen Autoren mit Interessenskonflikten aus.
Was machen wir? Wir müssen zunächst erkennen, dass es ein Problem gibt. Forschung sollte darauf ausgerichtet sein, zu erforschen, was wir noch nicht wissen. Wir sollten die natürliche Geschichte von Krankheiten untersuchen, nicht-medikamentöse Interventionen durchführen, Diagnosekriterien hinterfragen, die Definition kompetitiver Interessen enger fassen und den aktuellen Langzeitnutzen von Medikamenten überprüfen, und bei alledem unsere intellektuelle Skepsis fördern. Wenn wir die Mängel der EBM nicht angehen, wird es ein Desaster geben, aber ich fürchte, es muss ein Desaster geben, bevor jemand zuhören wird.“ Des Spence, Allgemeinmediziner aus Glasgow
Referenz: Spence , D. Evidence based medicine is broken. BMJ 2014; 348 :g22