Der Artikel von Coffey und O’Leary macht für uns in der praktischen osteopathischen Herangehensweise in mancher Hinsicht Unterschiede für die Zukunft: Dies beginnt bereits mit der Palpation, denn das innere Bild, die Erwartung zu einer Struktur, wird häufig auch das palpatorische Erleben verändern. Die Gewissheit über das Mesenterium als eigenständiger Struktur, die mit anderen Mesos (auch die Faszien von Toldt und Treitz sind eigentlich verklebte Mesos, weil gefäßführend) nicht nur zusammenhängt, sondern eigentlich identisch ist, wird also bereits unsere osteopathische Wahrnehmung verändern. Die neue Erkenntnis zum Mesenterium wird auch einige Erklärungsmodelle in einem anderen Licht erscheinen lassen. So ist die Funktionsweise eines „großen abdominalen Manövers“ in diesem Zusammenhang leichter einsehbar, da ja über das Mesenterium die Wirkung auf den gesamten abdominalen Raum mit dieser „neuen“ Einsicht leichter fassbar ist. Auch die Behandlung von Pathologien, wie des Morbus Crohn oder anderer darmassoziierter Erkrankungen wird sich dadurch möglicherweise wandeln. Bedeutet ein histologischer Gesamtverband aller mesenterialen Strukturen doch auch, dass überall ähnliche Steuerungsprozesse stattfinden und damit vielleicht weitere Feedback-Schleifen auftauchen, die das Enterische Nervensystem, die Peristaltik und die Steuerung der Darmgefäße über vasoaktive Substanzen wie dem VIP oder Stickstoffmonoxid betreffen[1]. Aber über die rein viszerale Betrachtung hinaus bedeutet es auch, dass unsere osteopathische Betrachtung der posterioren Bauchwand auch für die Gesamtstatik des Körpers noch einmal überdacht werden sollte. Hier leistet der Artikel vielleicht einen Beitrag zu einer mehr systemischen Betrachtung: Die Steuerung aller Körpersysteme für das „Gesamtwohl“ ist vermutlich sehr hierarchisch organisiert[2]. Wichtigere Prozesse werden nach unserem Bild ja kompensatorisch durch „unwichtigere“ Systeme gestützt. In diesem Zusammenhang gehört das Mesenterium zwar auch zu den Stütz- und Haltestrukturen des Abdomens, ist aber wohl zugleich auch viel mehr, da es auch sensorische und Steuerungsaufgaben erledigt. Diese machen wir uns schon lange z.B. auch bei indirekten Techniken wie BLT zu Nutze. Auch hier bedeutet aber das palpatorische Erleben eines „Release“ im Mesenterium plötzlich auch viel mehr Erklärung für die Wirkung z.B. auf die parietale Statik oder auf bisher nicht-mesenteriale Strukturen. Wir sind gespannt, ob und welche physiologische Funktion sich in Zukunft an dieser spannenden Struktur noch ergibt.
Ralf Vogt MSc, DO
- Rome PL, e.a., Neurovertebral Influence on Visceral and ANS Function: Some of the Evidence To Date—Part II: Somatovisceral. Chiropractic Journal of Australia, 2010. 39(1): p. 9-33.
- Roth, G.e.a., ed. Das Gehirn und seine Wirklichkeit:kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 10. Auflage ed. 1996, Suhrkamp-Verlag: Frankfurt a.M. 384.