Von Torsten Liem[1], Heinz Hilbrecht [2] und Tobias Schmidt [3] –
Die grundsätzliche Forderung der wissenschaftlichen Methode ist, dass Ergebnisse für jeden Menschen nachvollziehbar und damit überprüfbar sein müssen. In der Naturwissenschaft muss jede Erkenntnis durch Experimente überprüfbar sein. Deshalb wird genau unterschieden zwischen Hypothesen, empirischen Erkenntnissen und schließlich Theorien. Eine Hypothese ist eine unbewiesene Annahme. Sie liefert die Motivation zur wissenschaftlichen Forschung. Eine gute Hypothese ruht in der Wissenschaft, sie sollte plausible Grundgedanken haben und vor allem Experimente aufzeigen, um sie zu überprüfen. Eine Hypothese, aus der keine Experimente abgeleitet werden können, ist eine Spekulation, die damit keine Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnis liefert. Empirische Erkenntnisse entstehen durch wissenschaftliche Experimente und Beobachtungen. „Wissenschaftlich“ ist dabei, dass diese Forschung so gestaltet ist, dass sie prinzipiell für jeden Menschen wiederholbar, nachvollziehbar und damit überprüfbar ist. Der Wissenschaftler ist dabei als Person ersetzbar, denn nur so kann das Experiment wiederholt werden. Zur wissenschaftlichen Forschung gehört auch die selbstkritische Haltung des Wissenschaftlers. Im Experiment werden deshalb auch Daten erhoben, die eine Hypothese widerlegen, oder Störfaktoren, die ein Ergebnis infrage stellen können.
In der medizinischen Forschung ist das besonders wichtig, denn der Mensch ist ein extrem komplexes System. Typisch für solche Systeme ist, dass Veränderungen an einer Stelle zu Wirkungen an vielen anderen Stellen führen können, die wieder Ursachen für neue Veränderungen werden. Solche Systeme sind in ihren einzelnen Bestandteilen kaum vorhersagbar. Sie sind trotzdem wissenschaftlich erforschbar, auf den Grundlagen der Systemtheorie.
Das bedeutet, dass Beobachtungen und Messungen ein System „von außen“ erfassen und nicht seine Einzelkomponenten. Solche Verfahren sind als „Black-Box-Untersuchungen“ bekannt. Dabei wird ein äußerer Einfluss auf ein System mit der Antwort verglichen, die das System produziert. Die Prozesse innerhalb des Systems werden dabei nicht betrachtet. Das Problem solcher Untersuchungen besteht darin, Größe und Form der „Black Box“ zu bestimmen, also die System- grenzen.
Das „System Herz“ kann verdeutlichen, dass die Bestimmung der Systemgrenzen kein triviales Problem ist. Der Herzschlag unterliegt einem regulatorischen System, dass die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff, Nährstoffen oder Bestandteilen des Immunsystems sicherstellt. Dafür wird ein bestimmtes Blutvolumen bewegt und ein bestimmter Blutdruck in den Gefäßen aufrechterhalten. Der Herzschlag wird durch zahlreiche physische Faktoren bestimmt. In diesem System sind allerdings auch psychische Faktoren wirk- sam. So wirkt allein die Aufregung des Patienten vor der Behandlung bzw. dem Experiment auf den Herzschlag, ebenso Vertrauen oder Abneigung gegenüber dem Therapeuten. Das „System Herz“ erweitert sich auf psychische Faktoren und schließt eventuell sogar den Therapeuten ein. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Herzschlags muss also auch psychische Faktoren erfassen, die Systemgrenzen also entsprechend weit stecken.
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Der Therapeut als Teil des Systems
Gerade in der Osteopathie ist der Therapeut immer Teil des Systems. Allein die körperliche Berührung löst eine Vielzahl von Reaktionen im Patienten aus, im günstigen Fall Gefühle von Vertrauen, Zuversicht und Geborgenheit. Damit schüttet der Patient auch das „Bindungshormon“ Oxytozin aus, das die Stressreaktion dämpft und z.B. die Heilung von Wunden deutlich beschleunigt.[4]
Subjektive Einzelerfahrungen in der Palpation während einer osteopathischen Behandlung werden durch verschiedene Erfahrungshorizonte des praktizierenden Osteopathen gefärbt.[5] Die Schwäche dieser Vorgehensweisen liegt in einer gewissen Unschärfe subjektiver Wahrnehmungsmodi. Die Stärke dabei ist die Fähigkeit zu Resonanzbildung und Empathie und damit die Fähigkeit, sich auf das dynamische Ganze eines individuellen Patienten einzustimmen. Umso mehr muss diese Wechselbeziehung in der osteopathischen Forschung erfasst werden.
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Von der Theorie zur Erkenntnis
Eine Theorie ist in der Wissenschaft kein weltfremdes Konstrukt, wie die Verwendung des Begriffs in der Umgangssprache suggeriert. Vielmehr ist eine wissenschaftliche Theorie das eigentliche Ziel der Forschung. Eine Theorie verallgemeinert die Ergebnisse empirischer Forschung und macht sie berechenbar. Sie ist ein Modell der Wirklichkeit, aus dem sich Vorhersagen ableiten lassen, an denen sich der Wert der Theorie im Alltag messen muss.
In aller Regel gilt eine Theorie nur innerhalb bestimmter Grenzen. In der Wissenschaft ist es außerdem normal, dass Widersprüche zwischen Theorie und Wirklichkeit neue Forschung anstoßen, Zusammenhänge tiefer erfassen lassen und sich daraus eine neue Theorie entwickelt.
Wissenschaft ist ein historischer Prozess, der eingebunden ist in die Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Was eine Gesellschaft und damit auch der Wissenschaftler für „undenkbar“ hält, kann sich grundlegend verändern. Eine entscheidende Eigenschaft des Wissenschaftlers sollte sein, jeden Kenntnisstand und jede Theoriebildung als „Stand der Wissenschaft“ zu sehen, der sich mit neuen Erkenntnissen verändern muss. Wissenschaftler handeln nicht aufgrund von „Wahrheit“, sondern nach bestem Wissen und Gewissen. Sie sind bereit, ihre Weltsicht zu verändern, wenn wissenschaftlich begründete Fakten solche Veränderungen fordern.
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Freuen Sie sich auf den zweiten Teil des Artikels in unserem Adventskalender!
[1] Torsten Liem, M.Sc. paed. Ost., D.P.O., Osteopath G.Os.C. (GB). Gründer und stellvertretender Leiter der Osteopathie Schule Deutschland (OSD), eines M.Sc.-Programms in pädiatrischer Osteopathie und Cofounder von Breathe-Yoga. Autor zahlreicher Publikationen.
[2] Dr. Heinz Hilbrecht, Dipl. Geologe/Paläontologe an der Freien Universität und ETH Zürich, heute Journalist, Buchautor von „Meditation und Gehirn“, Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.
[3] Dr. Tobias Schmidt, Arzt, Sportwissenschaftler und Osteopath, wissenschaftlicher Leiter der Osteopathie Schule Deutschland und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hamburg.
[4] Gouin JP, Carter CS, Pournajafi-Nazarloo H et al. (2010) Marital behavior, oxytocin, vasopressin, and wound healing. Psychoneuroendocrinology 35 (7): 1082–90; Işeri SO, Gedik IE, Erzik C, Uslu B, Arbak S, Gedik N, Yeğen BC (2008) Oxytocin ameliorates skin damage and oxidant gastric injury in rats with thermal trauma. Burns 34 (3):361–9; Vitalo A, Fricchione J, Casali M et al. (2009) Nest making and oxytocin comparably promote wound healing in isolation reared rats. PLoS Onen 4 (5): e5523.
[5] Liem T (2011) Wechselseitige Beziehungsdynamiken und subjektive Ansätze in der Osteopathie. Osteopath Med 2: 4–7.