Vom 18.11.-20.11.2016 findet in Berlin der jährliche internationale und interdisziplinäre Kongress der Osteopathie Schule Deutschland statt.
Dieses Jahr reisen internationale Experten aus der Welt der Osteopathie und Medizin an, um ihr Wissen aus dem Themenbereich „Trauma, ANS und Osteopathie“ mit uns zu teilen.
Einer dieser Referenten ist Prof. Dr. med. Wilfrid Jänig. Wir haben uns mit ihm unterhalten, um herauszufinden, was er sich vom Kongress erwartet und um einen Einblick in seine Tätigkeiten zu bekommen.

Kongress-Interview-Jänig

 

OSD: Was erwarten Sie sich von dem Kongress? Was ist Ihre Motivation, an diesem mitzuwirken und in die bunte Welt der Osteopathie hinein zu schnuppern?

WJ: Osteopathische Medizin, Manuelle Medizin und ähnliche medizinische Felder zeigen in den Westlichen Ländern ein starkes Wachstum. Sie konkurrieren mit der klassischen akademischen Medizin in ihren therapeutischen Ansätzen (z.B. im Bereich der Therapie chronischer Schmerzen, funktioneller Erkrankungen muskuloskeletaler Systeme, funktioneller viszeraler Erkrankungen usw.). Die Grundidee ist, die natürlichen Mechanismen des Systems Körper-Gehirn in den therapeutischen Ansätzen zu aktivieren und zu nutzen. Hier stehen die peripheren und zentralnervösen vegetativen Systeme, der interozeptiven Systeme und die neuroendokrinen Systeme im Zentrum. Für einen integrativ arbeitenden Neurobiologen, der in diesen Gebieten zu Hause ist, ist es reizvoll, darüber nachzudenken, wie denn diese integrativ arbeitenden Systeme unter physiologischen und pathophysiologischen arbeiten und an der „Erzeugung“ von Gesundheit und Krankheit beteiligt sind. Man betritt und exploriert also fremdes Territorium. Dieser Prozess wird vermutlich zu einigen Entdeckungen führen, aber vermutlich auch angesichts positiver Erwartungen zu Ernüchterungen.

OSD: Mögen Sie kurz Ihre Kritik an der veralteten Sichtweise einer antagonistischen Beziehung zwischen Sympathikus und Parasympathikus zusammenfassen?

WJ: Die Systeme Sympathikus und Parasympathikus sind primär anatomisch definiert. Beide Systeme arbeiten immer zusammen. Das Funktionieren beider Systeme als antagonistisch zu beschreiben und zu verstehen, ist nach meiner Meinung falsch oder sehr vereinfachend. Diese Sicht versperrt zu erkennen, wie wunderbar diese Systeme organisiert sind. Bei genauer Betrachtung sind beide Systeme (und das Darmnervensystem, welches das dritte vegetative Nervensystem ist) nach neurobiologischen Kriterien (Anatomie, Neurophysiologie, Histochemie, Molekularbiologie) hochdifferenziert. Diese Differenzierung ist die Grundlage für die präzise Regulation der somatischen und viszeralen Gewebe.

OSD: Welche integrative Rolle spielt das zentrale Nervensystem (Hypothalamus, oberer/unterer Hirnstamm, Rückenmark) bei der Kontrolle des ANS?

WJ: Das Geheimnis der Organisation vegetativer und neuroendokriner Systeme und ihrer Integration mit den interozeptiven Systemen liegt natürlich im Hypothalamus, unteren und oberen Hirnstamm sowie im Rückenmark verborgen. Die Aufklärung der Mechanismen der vegetativen, neuroendokrinen und interozeptiven Regulationen, die in diesen Zentren repräsentiert sind, wird in den nächsten Jahrzehnten stattfinden. Diese wissenschaftlichen Tätigkeiten, deren methodische Werkzeuge von der molekularen Biologie bis zur Psychobiologie reichen, werden zu begeisternden Ergebnissen führen und uns klarmachen, mit welcher Raffinesse die Natur diese Regulationen der Körperfunktionen entworfen hat.

OSD: Wie autonom ist das Autonome Nervensystem wirklich? Wo sehen Sie Möglichkeiten der willentlichen Modulation? Welche Mechanismen stehen dahinter?

WJ: Die vegetativen Regulationen laufen unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab. Deshalb heißt das vegetative Nervensystem auch autonomes Nervensystem. Das vegetative Nervensystem steht allerdings unter der Kontrolle des Vorderhirns, wie die Versuche von Ivan Pawlow und viele anderen modernen experimentellen Ansätze zeigen. Über diese kortikale Kontrolle wird das vegetative Nervensystem optimal an das Verhalten angepasst. Unter Hypnose können ebenso verschiedene vegetative Parameter beeinflusst werden (wie z.B. die Herzfrequenz, die Aktivität der Sudomotorneurone, die die Schweißdrüsen innervieren). Es gibt Individuen, die bewusst eine Piloerektion auslösen können.

In jedem Falle ist es biologisch sinnvoll, dass normalerweise die vegetativen Nervensysteme unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeiten. In diesem Kontext muss betont werden, dass die meisten somatomotorischen Prozesse ebenfalls unbewusst ablaufen.

OSD: Welche möglichen Zugänge zum Patienten-ANS stehen dem Osteopathie aus Ihrer Sicht zur Verfügung?

WJ: Die Hypothese ist, dass die Erregung interozeptiver afferenter Neurone, die tiefe somatische Körpergewebe oder die Haut innervieren, durch manuelle Interventionen zum Eingriff in die neuronalen somatomotorischen und vegetativen „Reflexmaschinerien“ im Rückenmark, Hirnstamm und Hypothalamus führt und dass auf diese Weise die Regulation somatischer und viszeraler Gewebe beeinflusst wird. Dabei werden auch über die Aktivierung des interozeptiven spino/trigemino-thalamo-cortico-insulären Systems unsere Körperempfindungen und Körpergefühle (Emotionen) beeinflusst. Die kortikalen Prozesse haben wiederum Rückwirkungen auf die vegetativen und neuroendokrinen Regulationen, deren Mechanismen wir bisher nur sehr unvollständig verstehen.

OSD: Wie erklären Sie sich den großen Anteil afferenter Fasern des N. Vagus, wenn die Organe selbst nicht gespürt werden? Anders gefragt: Welchen Stellenwert hat die Interozeption für das Gesamtgefüge Mensch?

WJ: Der Nervus vagus ist nach der Zahl von Neuronen, die in ihn hineinprojizieren, der dickste Nerve in unserem Körper. Etwa 85% aller Axone im Nervus vagus sind afferent. Diese afferenten Neurone innervieren Strukturen des kardiovaskulären Systems, das respiratorische System und den Magen-Darm-Trakt. Ihre hohe Zahl zeigt, wie wichtig diese interozeptive Rückmeldung zum Gehirn für die Regulation dieser Organsysteme ist, einschließlich der Körperabwehr, welche das Immunsystem einschließt. Ihre Erregung kann zu allgemeinen angenehmen und unangenehmen Körperempfindungen, die mit den viszeralen Organsystemen assoziiert sind, führen. Unter pathophysiologischen Bedingungen, wie z.B. bei abdominalen Entzündungen, löst ihre Aktivierung Krankheitsverhalten aus. Um zu betonen, es ist biologisch sinnvoll, dass die Prozesse der Regulation viszeraler Organe normalerweise unbewusst ablaufen und nicht gespürt werden.

OSD: Hatten Sie in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn jeden Verdacht, dass dem Körper neben dem Nerven- und humoralen System noch weitere Informationssysteme zu Verfügung stehen?

WJ: Wenn mit diese Frage gemeint ist, dass der Körper (und das Gehirn) unter einer Kontrolle von Mechanismen steht, die außerhalb und unabhängig von dem System Gehirn-Körper operieren und in dieses eingreifen, ist meine Antwort NEIN. Man kann es auch platt so ausdrücken: „no Pain without Brain“, „keine Körperempfindungen und Gefühle (Emotionen) außerhalb des Systems Gehirn-Körper“.

OSD: Wie erklären Sie das Phänomen der Intuition?

WJ: Hier bin ich überfragt. Die Grundlagen für die Erzeugung von Intuition im Bereich der Wissenschaft sind vielfältige und tiefgreifende Erfahrungen vor dem Hintergrund einer großen Begabung und eines profunden Wissens. So glaube ich, dass so manche wissenschaftliche Entdeckung auch auf intuitivem Wissen beruht. In jedem Falle beneide ich so manche begabte Kollegen in der Wissenschaft, die die Gabe der Intuition haben. Hier treffen sich übrigens Kunst und Wissenschaft.

OSD: Bezüglich des Kongressthemas „Trauma und autonomes Nervensystem“: Haben Sie in Ihrer langjährigen Praxis mit Tierversuchen Beobachtungen gemacht, die Sie für bemerkenswert hielten und gerne weiter untersucht hätten?

WJ: Die Antwort ist ohne Einschränkung: JA. Jeder experimentell arbeitende Wissenschaftler macht Beobachtungen, die ihn aufregen und „elektrisieren“, die er (häufig aus intuitiven Gründen) für bedeutend und wichtig hält und die er gerne weiter untersucht hätte. Ihm sind aber häufig Grenzen gesetzt, diese Beobachtungen weiter zu untersuchen. Diese Grenzen können (1) rein finanziell bedingt sein (die Auseinandersetzung und Konkurrenz um so-genannte Drittmittel von Forschungsinstitutionen sind erbarmungslos), (2) ethischer Natur sein (nicht alles, was experimentell machbar ist, ist ethisch vertretbar; das betrifft besonders den großen Bereich der Forschung an Tieren und am Menschen) oder (3) auch bedingt sein durch die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit die Forschungsziele klar und erfolgsversprechend zu formulieren (eine aufregende Beobachtung bedeutet nicht notwendigerweise, dass man aus ihr ein Forschungsprojekt mit vertretbarem Risiko ableiten kann).

OSD: Ihre Vorträge und Schriften sind auch ein Plädoyer für eine präzise wissenschaftliche Methode. Die osteopathische Praxis bedient sich gerne des phänomenologischen Erkenntnisgewinns. Wie stellen Sie sich eine mögliche Synthese dieser beiden Methoden vor?

WJ: Jede Wissenschaft beginnt mit Beobachtungen (und ihrer Quantifizierung). Das gilt auch für die osteopathische Praxis. Die Beobachtungen führen zur Formulierung von Hypothesen, die am Menschen (Gesunde, Patienten) als Modell oder/und am Tiermodel (Verhaltensmodelle, reduzierte in vivo Modelle, in vitro Modelle usw.) getestet werden können. Die zu verwendenden Methoden sind angesichts der technischen Entwicklungen prinzipiell vorhanden. Systematische Forschung in diesem Feld muss einer Langzeitstrategie folgen, kann nicht nebenbei durchgeführt werden, und ist nicht billig angesichts der Personalkosten. Sie wird nach meiner Meinung zu wichtigen Ergebnissen führen, wenn sie unabhängig von ihrem sogenannten therapeutischen Nutzen und unabhängig von ökonomischen Gesichtspunkten durchgeführt wird. Diese Ergebnisse werden z.T. negativ sein, weil sie liebgewonnene Dogmen widerlegen.

OSD: Vielen Dank für das interessante Gespräch!

Wenn Sie Lust haben, an einem Workshop von Prof Dr. med. Jänig teilzunehmen, finden Sie hier alle Informationen zu unserem Kongress!

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